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Aktuelles

Profitiert haben viele

Das »Dritte Reich« als Beutegemeinschaft

Überall im Deutschen Reich, in jeder Stadt und jedem Dorf, in dem Juden gelebt haben, kommen deren Habseligkeiten unter den Hammer – meist unmittelbar nach deren Deportation und genau dokumentiert. Die Versteigerer protokollieren akribisch jeden Verkauf ehemals jüdischen Eigentums zwischen 1933 und 1944. In unzähligen Listen sind die von den ausreisenden und deportierten Juden zurückgelassenen Gegenstände erfasst: Betten und Schränke, Tische und Stühle, Bettwäsche, Kleidung, Musikinstrumente und Spielzeug – und der jeweilige Preis.

Der Ablauf ist fast immer gleich: Nachdem die Bewohner ihre Wohnung verlassen haben, übergibt die Gestapo den Schlüssel an die Finanzbeamten. Teilweise wird bereits zu diesem Zeitpunkt angemeldet, welche Einrichtungsgegenstände NS-Behörden zu Gute kommen können. So gehen Schränke und Schreibtische an Verwaltungsbehörden, Bücher an Bibliotheken und Haushaltswaren an die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt. Die übrigen Gegenstände werden in der Regel vom Versteigerer geschätzt und dann aus der Wohnung oder aus einem Versteigerungslokal versteigert.

Als Auftraggeber fungieren die Geheime Staatspolizei oder die Oberfinanzdirektion, die das Geld zugunsten der Reichskasse einziehen. Daneben profitieren auch Spediteure, Lagerverwalter und Vermieter. Jeder Handgriff, jeder Gegenstand, jeder Käufer aber auch Mietkosten, Gebühren und die Abführung an die Reichsfinanzkasse wird in Versteigerungsprotokollen penibel dokumentiert – auch die Provision von meist zehn Prozent des Erlöses für die Versteigerer.

Unzählige Zeitungsannoncen künden damals von dem makabren Geschäft. Aus ihnen wird deutlich, dass diese Vorgänge nicht im Geheimen stattfanden, sondern als lokale Großereignisse an zentralen Orten. Oft werben die Anzeigen offen mit »Judensachen« oder Möbeln aus »nichtarischem Besitz« – die festgesetzten Preise liegen weit unter dem tatsächlichen Wert und sollen in der Regel eingehalten werden. Es kommt zu regelrechten Schnäppchenjagden. Jede*r der Käufer*innen musste wissen, dass die ehemaligen Besitzer nicht zurückkommen werden. Häufig werden laut Anzeige bestimmte Bevölkerungsgruppen bevorzugt, zum Beispiel Jungverheiratete oder Bombengeschädigte.

Quelle: MDR-Zeitreise-Schwerpunkt: Die Versteigerer - Profiteure des Holocaust Wie sich der NS-Staat jüdisches Eigentum einverleibte (gekürzte Fassung), veröffentlicht am 24. Juni 2022, 10:17 Uhr

https://www.mdr.de/geschichte/ns-zeit/holocaust/die-versteigerer-juedisches-eigentum-juden-im-dritten-reich-100.html

Das Bremer »Arisierungs«-Mahnmal erinnert mich an Doris, Tochter von Ernst und Elisabeth, zwölf Jahre alt, geboren in Guben

Marita Kloppenburg Januar 2024

In ihrem Roman »Heimsuchung« beschreibt Jenny Erpenbeck die Versteigerungen von jüdischen Möbeln und Hausrat.

Als ich das erste Mal davon hörte, dass in Bremen – als bisher erstem und einzigem Ort in Deutschland – ein Denkmal zur »Arisierung« jüdischen Eigentums im Nationalsozialismus eingeweiht werden soll, fiel mir sofort eine Passage in einem Roman ein, den ich ca. 14 Jahre zuvor gelesen hatte. In ihm wird literarisch auf sehr eindrückliche Weise das beschrieben, woran das Bremer Denkmal erinnern möchte.

Ich weiß noch heute, wie tief mich diese Geschichte von Doris, Tochter von Ernst und Elisabeth, zwölf Jahre alt, geboren in Guben, bewegt und zu Tränen gerührt hat.

Daher war auch meine erste Reaktion auf das Denkmal eine sehr positive: Wie gut, dass es hier in Bremen einen Ort gibt, der an die systematische, bis ins Kleinste durchorganisierte und Schritt für Schritt durchgeführte Vernichtung von jüdischem Leben, und hier speziell an den Raub von Möbeln und des gesamten Hausinventars, erinnert!

In ihrem Roman »Heimsuchung« (2008, Eichborn AG, Frankfurt am Main) beschreibt Jenny Erpenbeck ein Haus mit Grundstück an einem märkischen See in Brandenburg und erzählt die Geschichten der wechselnden Bewohner im Verlauf des vergangenen Jahrhunderts und die Einflüsse der geschichtlichen Ereignisse auf ihr Leben.

Ein Kapitel des Buches trägt die Überschrift »Das Mädchen« und es geht um Doris, Tochter von Ernst und Elisabeth, zwölf Jahre alt, geboren in Guben. Ihre Mutter Elisabeth ist die Schwester von Ludwig, deren Eltern heißen Arthur und Hermine und sind jüdische Tuchfabrikanten. Die Familie besitzt ein Grundstück an besagtem märkischen See mit Badehaus und Steg, wo sie im Sommer und an Wochenenden schöne Tage verleben.

Im Jahr 1936 wandert Doris Onkel Ludwig mit seiner Frau Anna nach Südafrika aus, 1939 wollen auch die Großeltern Deutschland verlassen und verkaufen das Seegrundstück an den benachbarten Architekten, der dafür eine »Entjudungsgewinnabgabe« von 6% an das Finanzamt zahlen muss.

Bevor die Ausreise möglich ist, werden die Großeltern jedoch von der Levetzowstraße in Berlin-Moabit aus abtransportiert und sterben in Kulmhof bei Litzmannstadt in einem Gaswagen, während gleichzeitig ihr gesamter Besitz – auch der Verkaufserlös des Seegrundstücks – an das Deutsche Reich, vertreten durch den Reichsfinanzminister, fällt und der Hausrat versteigert wird.

Ernst, der Vater von Doris, stirbt als Zwangsarbeiter beim Autobahnbau an Fleckfieber und Doris wird mit ihrer Mutter Elisabeth nach Warschau deportiert.

Auch Ernst und Elisabeth hatten sich um eine Ausreise nach Brasilien bemüht und für den Umzug Möbel und Hausrat in einen Container verpackt:

»In Brasilien, hatte der Vater gesagt, wirst Du einen Sonnenhut brauchen. Gibt es in Brasilien auch Seen? Aber ja. Gibt es in Brasilien auch Bäume? Doppelt so große wie hier. Und unser Klavier? Das passt nicht mehr rein, hatte der Vater gesagt und die Tür des Containers, in dem ihr Schreibpult stand, und mehrere Koffer mit Wäsche und Anziehsachen, und ihr Bett mit den Matratzen und all ihre Bücher, zugemacht und verschlossen. Auf dem Hof irgendeiner Gubener Spedition stand sicher immer noch dieser Container …« (Seite 86)

Als Doris und ihre Mutter 1942 im Warschauer Ghetto leben, wird an einem Tag im Juni « … ihr gesamter Gubener Hausrat in der umgekehrten Reihenfolge, in der ihr Vater und ihre Mutter ihn zwei Jahre zuvor für die Ausreise nach Brasilien in die Container gepackt hatten, von Herrn Carl Pflüger und dem ihm beigeordneten Kriminalkommissar Pauschel aus den Containern herausgenommen und für die Versteigerung hergerichtet.« (Seite 88)

»… genau an diesem Tag im Juni, etwa zwei Monate nach ihrer Ankunft in Warschau wurde, ohne dass sie es wußte, in Guben ihr Kinderbett, laufende Nummer 48, für Mk. 20,- an Frau Warnitschek aus der Neustädter Straße 17 versteigert, ihre Kakaokanne, laufende Nummer119, an Herrn Schulz aus der Alten Poststr. 42, nur wenige Häuser neben dem Haus, in dem sie gewohnt hatten, und die Zieharmonika ihres Vaters, laufende Nummer 133, für Mk. 36,- an Herrn Moosmann, Salzmarktstraße 6. Am Abend dieses Tages, an dem sie erst kurz vor der Sperrstunde in ihr Quartier zurückging, an diesem Abend eines der längsten Tage des Jahres 1942, an dem ein leichter, frühsommerlicher Wind die Zeitungen fortwehte, mit denen die Körper der Toten bedeckt waren, und Verwesungsgeruch aufstieg, an diesem hellen Abend, an dem sie, wie sie es sich hier angewöhnt hatte, in Schlangenlinien heimging, um nicht über die Leichen zu stolpern, am Abend dieses Tages, an dem sich wie an allen anderen Abenden das Weinen der elternlosen Kinder in den Hausfluren erhob, an diesem Montagabend, an dem ihre Mutter ihr die für die Armbanduhr eingetauschten Kartoffeln vorsetzte, sehr wahrscheinlich die letzten, die sie in ihrem Leben gegessen haben würde, an diesem Abend schon ruhten all die Bettlaken von Ernst, Elisabeth und Doris, je paarweise für Preise zwischen Mk. 8, Pf. 40 und Mk. 8, Pf. 70 ersteigert, laufende Nummern 177 bis 185, glattgestrichen in den Wäscheschränken der Familien Wittger, Schulz, Müller, Seiler, Langmann und Brühl, Klemker, Fröhlich und Wulf.« (Seiten 88 f.)

Im Verlauf des Buchkapitels wird beschrieben, wie Doris in einer winzig kleinen, stockdunklen Kammer ausharrt, die ihr als Versteck dient und das sie auf Geheiß der Mutter nicht verlassen darf. Sie ist nun mutterseelenallein, das Ghetto wurde geräumt und auch die Mutter wird nicht wiederkommen. Alles um sie herum ist vollkommen still und dunkel und niemand mehr weiß, dass sie da ist. »Farbig ist nur noch das, woran sie sich erinnert, mitten in dieser Dunkelheit.« Und diese Erinnerungen sind vor allem die an das Grundstück am märkischen See, an dem die Familie viele glückliche und unbeschwerte Stunden verbracht hat.
»Während das Mädchen in seiner schwarzen Kammer sitzt und von Zeit zu Zeit versucht, sich aufzurichten, dabei aber mit dem Kopf gegen die Decke des Verstecks stößt, während es die Augen weit aufmacht und dennoch nicht einmal die Wände seiner Kammer sehen kann, während die Dunkelheit so groß ist, dass das Mädchen nicht einmal erkennen kann, wo sie aufhört, erscheinen in seinem Kopf Erinnerungen an Tage, an denen das ganze Blickfeld mit Farben ausgefüllt war bis an die Ränder. Wolken, Himmel und Blätter, Blätter von Eichen, Blätter der Weide, die wie Haare herunterhängen, schwarze Erde zwischen den Zehen, trockene Kiefernnadeln und Gras, Kienzapfen, schuppige Rinde, Wolken, Himmel und Blätter, Sand, Erde, Wasser und Bretter des Stegs, Wolken, Himmel und gleißendes Wasser, in dem die Sonne sich spiegelte, schattiges Wasser unter dem Steg, durch die Ritzen kann sie es sehen, wenn sie sich mit dem Bauch auf die warmen Bretter legt, um nach dem Baden zu trocknen. Nachdem der Onkel schon fort war, hatte der Großvater sie noch zwei Sommer lang zum Segeln mitgenommen. Sicher steht die Jolle des Großvaters noch immer in der Werft des Dorfes. Seit vier Jahren im Winterquartier. Jetzt, ohne zu wissen, ob draußen Tag ist oder Nacht, greift das Mädchen nach der Hand, die der Großvater ausstreckt, steigt vom Steg auf den Bootsrand hinüber, sieht, wie der Großvater den Knoten, mit dem das Boot am Steg festgemacht ist, löst und das Seil ins Boot wirft.« (Seite 81)

Auch Schwimmen hatte Doris dort im See gelernt und die Nachbarin hatte ihr gezeigt, wie man Krebse fängt, eine Weide hatte sie mit dem Großvater und dem Onkel dort gepflanzt.

Schließlich wird das Mädchen in der Kammer der verlassenen Wohnung in der Nowolipiestraße in Warschau entdeckt vom »Werterfassungskommando unter Leitung eines deutschen Soldaten«.

Zum letzten Mal geht sie nun durch die Straßen des Ghettos in Warschau und wird in ein Vernichtungslager deportiert.

»Von den hundertzwanzig Menschen im Waggon ersticken während der zweistündigen Fahrt ungefähr dreißig. Weil sie ein elternloses Kind ist, gilt sie, wie auch einige Alte, die nicht mehr gehen können, und ein paar, die während der Fahrt den Verstand verloren haben, als Hindernis für den reibungslosen Ablauf und wird deshalb gleich nach der Ankunft beiseite getrieben, an einem Kleiderhaufen vorüber, der so hoch ist wie ein Berg … Zwei Minuten lang wölbt sich über ihr ein leicht bewölkter weißlicher Himmel, so wie am See immer kurz vor dem Regen, zwei Minuten lang atmet sie den Geruch nach Kiefern ein, den sie gut kennt, nur die Kiefern selbst kann sie wegen des hohen Zauns nicht sehen. Ist sie tatsächlich nach Hause gekommen? Zwei Minuten lang spürt sie den Sand unter den Schuhen, auch ein paar kleine Feuersteine und Kiesel aus Quarz oder Granit, bevor sie die Schuhe für immer auszieht und sich auf das Brett stellt, um sich erschießen zu lassen.

Nichts Schöneres, als mit offenen Augen zu tauchen. Hinzutauchen bis zu den schimmernden Beinen von Mutter und Vater, die eben schwimmen waren und nun durch das flache Wasser zurück zum Ufer waten. Nichts Schöneres, als sie zu kitzeln und, durchs Wasser gedämpft, zu hören, wie sie kreischen, um ihrem Kind eine Freude zu machen.

Drei Jahre lang hat das Mädchen Klavierspielen gelernt, aber jetzt, während sein toter Körper in die Grube hinunterrutscht, wird das Wort Klavier von den Menschen zurückgenommen, jetzt wird der Rückwärtsüberschlag am Reck, den das Mädchen besser beherrschte als seine Schulkameradinnen, zurückgenommen und auch alle Bewegungen, die ein Schwimmender macht, das Greifen nach Krebsen wird zurückgenommen, ebenso wie die kleine Knotenkunde beim Segeln, all das wird ins Unerfundene zurückgenommen, und schließlich, ganz zuletzt, auch der Name des Mädchens selbst, bei dem niemals mehr jemand es rufen wird: Doris.« (Seite 91 f.)

An diese Geschichte von Doris, Tochter von Ernst und Elisabeth, zwölf Jahre alt, geboren in Guben, denke ich nun dank des Bremer Denkmals zur „Arisierung“ jüdischen Eigentums im Nationalsozialismus häufiger, beim Überqueren der Wilhelm-Kaisen-Brücke, beim Spaziergang auf der Weserpromenade oder auf dem Weg ins Weserstadion.


Marita Kloppenburg

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